That's it!

Anfang des Jahres begleitete ich meinen Chef zu einem weiteren Interview. Ich sollte beobachten und lernen, ehe ich das demnächst ohne Daddy über die Bühne bringen sollte. 
An besagtem Tag fuhr ich zur Filiale, dem Interview-Treffpunkt. Der Geschäftsführer der Filiale, der mich am Personaleingang entgegen nahm, war in seinem Anzug bestens gekleidet. Er war nicht sonderlich groß und seine Glatze glänzte wie eine polierte Bowlingkugel im matten Licht des Empfangs. Gesicht und Stimme waren angenehm. Seinen schwäbischen Dialekt hatte er nicht ablegen können und im Ruhrpott stach seine Aussprache hervor. Er wirkte, krampfhaft bemüht und schoss mit seiner überdrehten Heiterkeit ständig über das Ziel hinaus. Er lachte etwas zu oft und vor allem zu laut - über das was er selbst und andere sagten. Er hatte etwas von einer Comic-Figur, bei der man minütlich die unangenehme Ahnung verspürte, dass er gleich etwas Peinliches tun oder sagen würde. 
Ich saß höflich mit ihm am Tisch und rührte bedächtig in dem heißen Kaffee, den er mir gleich nach meiner Ankunft serviert hatte und gab mich belanglosem Smalltalk hin, der, trotz seines nervösen Gebrabbels, ständig in unangenehmer Stille verharrte und das ich wiederum mit einem Nicken und einem gepressten Lächeln versuchte zu entschärfen. Immer wieder starrte ich hoch zur Uhr, die über der Bürotür hing und wartete sehnsüchtig auf den Doktor, der schon längst hätte da sein müssen. Meine Gedanken fingen an abzuschweifen und ich träumte mich davon… 

…Ich war in den Südstaaten von Amerika. Ein kleines Örtchen zwischen Louisiana und Mississippi, das man schnell auf der Karte übersah. Ich war vor einem Jahr hier aufgetaucht und hatte niemandem erzählt woher ich kam. Die Leute im Ort begegneten mir skeptisch, beinahe feindselig. Sie bekamen nicht oft ein fremdes Gesicht zu sehen. Mit der Zeit aber wich der Argwohn und sie akzeptierten mich in ihrer Mitte. Ich suchte einen Job und fing nach wenigen Wochen in einer kleinen Kneipe am Rande des Ortes an zu arbeiten. Meine Schicht begann um 17:00 Uhr und endete erst, wenn der letzte Gast gegangen war. Sonntags und montags hatte ich frei. Es war Juli, und schrecklich heiß, als ich wie jeden Samstag zu Beginn meiner Schicht eine speckige Schürze um meine breiten Hüften band. Ich trug dazu ein weißes, ärmelloses Rippshirt, das sich entsprechend meiner Figur, vor allem an Hüften und Busen, stark dehnte. Meine Haut war klebrig, aber ich hatte mich daran gewöhnt, dass ich machtlos gegen die träge, stehende Luft war. Es kamen wie jeden Abend dieselben Gäste. Es stimmte wirklich, nur selten kamen Fremde, zu meist Männer, zufällig vorbei. 



Ich polierte die Gläser hinter der Bar und blies dabei immer wieder Strähnen, die von der Luft gelockt in meine Stirn fielen, nach oben. Der Abend verging ruhig, die Kneipe füllte sich und ich servierte immer wieder Gin, Bier oder Whiskey und erhielt viel Trinkgeld für meinen Charme und den feucht glänzenden Ansatz meines Dekolletees. Aus der Musikanlage tönte ‚Solitary Man‘ und einer der Gäste griff sich theatralisch an die Brust. In diesem Moment öffnete sich die Tür und  ein Mann betrat den Raum. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er trug ausgetretene Lederboots, eine alte, verschlissene Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Er war groß mit einer Statur wie gemalt. Breite Schultern, die in schmale Hüften übergingen. Seine Arme waren kräftig und das Shirt spannte über seiner muskulösen Brust. Sein Gesicht konnte ich nicht richtig erkennen, denn er trug einen Hut und hatte die Krempe tief ins Gesicht gezogen. Er trat an die Bar und bestellte mit tiefer Stimme und einem Akzent zäh wie Kaugummi einen ‚Old Fashioned‘. Ich nahm einen Tumbler, eine Art Becherglas aus dem Regal und stellte es vor ihn. Ich rieb das Glas von innen mit einer Scheibe Zitrone aus und warf einen Zuckerwürfel hinein. Ich spritze Angostura, einen Bitterlikör und Soda drüber, ehe ich es fast eine Minute verrührte bis sich der Zucker vollkommen aufgelöst hatte. Dann gab ich aus einem kleinen Becher auf den Millimeter abgemessen 4 cl Bourbon Whiskey hinzu und rührte noch einmal um, bevor ich drei Eiswürfel hinzugab.  
Er nahm nun seinen Hut ab und ich sah in ein braunes, wettergegerbtes, markantes Gesicht. Auf seiner Stirn stand der Schweiß, den er sich mit seinem Unterarm abwischte, ehe er nach dem Glas griff und es langsam an seine feingeschwungenen Lippen führte. Dabei sah er mich fest aus seinen grünen Augen an. 
„Perfekt.“, kam das Lob in einem tiefen Bariton aus seinem Mund, das sich nun zu einem verheißungsvollen Lächeln verzog. Ich grinste ihn an und stellte mir vor wie sein Mund…

…Ein Telefon schrillte und meine Groschenroman-Fantasie fand ein jähes Ende.
Ich war wieder zurück im Filialbüro des Geschäftsführers. Ich schaute auf mein Display. Der Doktor war endlich da, fast 40 Minuten zu spät. Er kam mit seinem Handy am Ohr in den Raum, um selbigen anstandslos nach zwei Minuten wieder zu verlassen. Der Geschäftsführer wirkte irritiert und ich versuchte meinen ungehobelten Chef mit Entschuldigungen a là „Ja, ja, der Verkehr um diese Zeit ist wirklich unberechenbar“ oder „Da scheint ja richtig was im Argen zu sein“ zu beschützen und lächelte dabei affektiert. Ich hatte Mitleid mit dem Glatzkopf. Man sah ihm regelrecht an, wie die kindliche Euphorie und Aufregung aus seinen Augen wich. Die weichgespülte Brabbel-Maschine nahm es persönlich und war gekränkt vom Verhalten meines Vorgesetzten. Er sah aus wie ein enttäuschtes Häufchen Elend und meine Muttergefühle verlangten nach einer unverzüglichen Intervention. Dabei wusste ich ganz genau, dass der Doktor zu spät losgefahren war und sich nun um jeden Smalltalk versuchte zu drücken. Ich hatte ja mittlerweile ein gewisses Gefühl für ihn entwickelt und wusste, dass er der Situation erst Interesse schenken würde, wenn der Journalist die Arena betrat.  
Der traf kurze Zeit später in Begleitung eines Fotografen und einer Praktikantin ein. Ich schätzte ihn auf Mitte 30, dabei wirkte er, vor allem wenn er lachte sehr viel jünger, beinahe bubig. Dabei war ich mir sicher, dass man ihn nicht unterschätzen sollte, denn das erste Mal hatte ich das Gefühl, einem wachen Journalisten gegenüber zu sitzen. Wir gingen zusammen in einen Besprechungsraum mit etwa zwölf Plätzen. Der Geschäftsführer, der Doktor und der Bub saßen in dieser Reihenfolge am einen und der Fotograf und ich am anderen Ende des langen Tisches. 
Das Gespräch nahm seinen Lauf und der Doktor saß scheinbar unbeteiligt wie er es im AC getan hatte da und starrte in sein Handy. Die zwei anderen trieben ihr Frage-Antwort-Spiel. Ich verfolgte das Gespräch mit zunehmenden Amüsement, denn der Glatzkopf erzählte in seiner Aufregung von vollkommen kleinteiligen Dingen mit beeindruckendem Überschwang.
„Wir haben hier ganz tolle Pfannen, in jeder Form und Farbe. Teure Modelle für den Qualitätseinkäufer und billige Modelle für den Studenten.“, führte der Glatzkopf aus.
„ Gut, gut. Wie sieht’s mit dem Service in der Filiale aus? Hat sich da was getan?“, fragte der Bub arglos.
„Oh, ja jaaa, sehr viel. Zum Beispiel haben wir in unsern Kabinen jetzt auch einen Service-Knopf installiert, damit die Damen unseren Verkäuferinnen signalisieren können, dass sie etwas brauchen. Und Sie glauben gar nicht, wie viele hilfsbedürftige Frauen es gibt. Hahaha.“
Ich riss die Augen auf. Das war eine gewagte These.
Der bis dahin coole Doktor wollte eingreifen, um die unglückliche Formulierung wieder gerade zu rücken, aber die Mozart-Kugel ließ sich nicht bremsen und redete ununterbrochen weiter. In mir stieg ein hysterisches Lachen auf, das ich kontrolliert niederzwängte. Doch ich konnte mich der Komik dieser Situation nicht entziehen.
„Haben Sie was Neues im Sortiment?“
„Oh aber ja. Wir haben jetzt Kerzen von einer super trendigen, amerikanischen Marke. Die kommen richtig gut an. So eine Kerze nimmt man sich beim Bummeln auch schnell mal mit. Hahaha“, erzählte der Glatzkopf stolz.
„Sie verkaufen hier Katzen?“, kam es ungläubig zurück.
„Was? Nein, keine Katzen, Kerzen.“
Alle lächelten sich über das kleine Missverständnis hinweg an und ich schlug mir die Hand vor den Mund und hielt die Luft an. Stellte mir, wie ein albernes Kind, vor, wie der Schwabe immer ein kleines Katzen-Baby zu jedem Einkauf dazu gab. Ich stand kurz davor einem Lachanfall zu erliegen. So einen, den man immer dann bekommt, wenn es unangebracht war – auf Beerdigungen, bei Vorträgen oder aber in Interviews. Ich fing an zu schwitzen, versuchte an Syrien, Ausschwitz und Hiroshima zu denken. Dachte an schreckliche Tierversuche, hungernde Kinder und einsame, demente Menschen. Aber es half alles nicht. Im Gegenteil, ich steigerte mich immer weiter in das Gefühl des Nichtdürfens hinein. Ich stand auf und verließ den Raum. Im Waschraum ging ich ernst mit mir ins Gericht.


„Beruhig dich verdammt nochmal. Du kannst das. Tief durchatmen. Du bist erwachsen und professionell. Also geh da jetzt wieder rein und reiß dich zusammen, Mädchen.“, dabei schaute ich in den Spiegel und nickte mir ernst zu. „Ja, Madam.“
Ich setzte mich wieder rein und lauschte angestrengt und unbeteiligt drein guckend dem Gesprächsverlauf. Der Geschäftsführer erzählte derweil weiter, wie unglaublich toll diese Filiale und das Team waren. Der Journalist grinste die ganze Zeit von einem Ohr zum anderen und der Doktor saß aufmerksam, gespannt wie ein Bogen, da.
„Aber jetzt mal als Beispiel, wenn ich eine Grußkarte, eine Jeans und Windeln für meine Tochter haben möchte, dann bekomme ich das alles bei Ihnen?“, wollte der Bub wissen. 
„Ja, grundsätzlich schon. Nur Windeln bieten wir nicht an, denn direkt nebenan gibt es einen Drogeriemarkt und der hat Windeln ohne Ende. Große Windeln, kleine Windeln, für Neugeborene, für Ältere, Saugstarke und mit Klettverbund.“
Ich zog die Luft tief ein. Ganz ruhig, Mädchen! Was haben wir eben noch besprochen? Was war daran witzig? Dm hatte doch wirklich eine riesige Windel-Auswahl, war landesweit für die Pampas-Palette bekannt.
„Aber eines muss ich Ihnen jetzt auch ganz aufrichtig sagen.“, begann der Bub, „Ich komme immer wirklich gerne hierher, denn was ich an dieser Filiale wirklich ganz toll finde sind Ihre Toiletten.“
„Hm ja ja, danke, ja auf die sind wir auch sehr stolz. Auch ein toller Service.“, meinte der Geschäftsführer ernst.
„Hey, aber wir stehen jetzt nicht für Toiletten.“, grätschte der Doktor ungläubig dazwischen. 
Alle lachten über die Situation, außer dem Doktor, der wirkte fassungslos.  Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, ging es gesittet weiter. 
Nur bei mir nicht. Bei mir waren die Sicherungen durchgeknallt. Ich hatte einen Lachanfall. Der Toiletten-Dialog hat mich über die Klippe geschmissen. Ich tat krampfhaft so als würde ich Husten und hielt immer wieder die Luft an. Ich merkte, wie mir die schwarze Mascara, zusammen mit meinen Lachtränen langsam an den Seiten meiner Wangen hinunter lief. Immer wieder sahen die Leute zu mir her und ich prustete in mein Haar, biss in meinen Unterarm und drückte mir die Hand so fest es ging auf den Mund. Der Doktor warf mir immer wieder sehr böse Blicke zu, aber selbst das half nichts. Ich war verloren in der Sonderbarkeit des Momentes. 
Nach dem Interview entschuldigte ich mich bei dem Doktor für meinen totalen Ausfall und schaffte es selbst dabei nicht, mir das Grinsen zu verkneifen.
„Das nächste Mal, gehen Sie raus.“, sagte er.
Ich nickte eilig und verließ die Filiale in Richtung U-Bahn, um mich auf den Weg ins Haupt¬quartier zu machen. Der Doktor blieb noch in der Filiale für das Foto-Shooting und ich ließ auf zwanzig Minuten Bahnfahrt alles raus was ich zurückgehalten hatte. Ich lachte aus der Tiefe meines Herzens, den Kopf in den Nacken gelegt, die schmerzenden Bauchmuskeln festhaltend. Ich lachte und lachte und lachte, dass sogar die Leute um mich herum anfingen nervös mit zu lachen, weil sie wohl Angst hatten, ich sei verrückt. 
Zurück im Headquarter erzählte ich dem Neutrum von meinem Termin – dem Gespräch und meinem peinlichen Ausfall. Sie lächelte dabei so wie sie es immer tat – die Augen unbeteiligt. 
Der Doktor sagte nach seiner Rückkehr nichts weiter dazu. Ich wusste, dass er es zu Recht unprofessionell und absolut unmöglich fand, was dort passiert war, aber gleichzeitig musste er wohl selbst darüber schmunzeln, denn er sah mich von seinem Stuhl stumm a la „ Was mache ich nur mit Ihnen?“ an.

Auszug aus meinem Buch "Gedächtnisprotokoll"