Zeitreisende II: Ein Gefühl von Besonderheit

Der erste Tag ging rasant zu Ende. Wir schlenderten noch ein wenig durch Siem Reap, organisierten uns und die kommenden Tage. Der Hauptgrund für unseren Besuch war Angkor, ein Gebiet etwa fünf Kilometer nördlich der Stadt, das berühmt für die historischen Stätte und Tempel und als archäologischer Park begehbar ist. Da wir nur wenig Zeit zum Entdecken hatten, machten wir uns im Internet auf die Suche nach einem Guide, der hoffentlich mehr Ahnung hatte als wir. Über TripAdvisor, eine App mit tausenden Reisetipps- und Bewertungen, stießen wir auf einen teuren Anbieter und buchten unkompliziert per Mail. Die happige Bezahlung wurde erst am Ende der Tour in bar fällig. Wir gönnten uns den Guide, weil die Bewertungen vor Begeisterung nur so übersprudelten und wir ehrlich gesagt keine großen Alternativen hatten. Ich stellte generell nach und nach fest, dass ich ziemlich geizig und ständig pikiert über die Preise der Khmer war. Die Einheimischen wussten, was sie den Ausländern abknöpfen konnten und ich bezahlte mürrisch. Mein in vollkommener Naivität kalkuliertes Budget sah ich zu meinem Verdruss wachsen und wachsen. Aber die Lust darüber nachzudenken verschwand, denn nach unserem ausgiebigen Mahl und einem Cocktail wollte ich schnell ins Bett. Wir ließen uns beim Schlendern noch ein wenig von der Atmosphäre berieseln. 
Siem Reap war anders, als alles, was ich bisher gesehen habe. Es lag eine ganz eigene Stimmung auf der Stadt, die ich nicht in Worte fassen konnte. Lag es an der kolonialen Architektur, den Menschen, den alten, knatternden Mofas oder den fremdartigen Gerüchen? Ich konnte es nicht sagen, aber die Anziehung, diese Exotik, die die Stadt auf mich ausübte, war sehr speziell und das erste Gefühl von Besonderheit, das ich nach der Landung empfand, war ungebrochen. 
Wir liefen zu einem Motorrad-Taxi auf der Hälfte der massiv belaufenen und touristisch geprägten Pub Street und hielten Ausschau nach einem kundigen Fahrer, weil wir vollkommen die Orientierung verloren hatten.


Dass der Typ selbst keine Ahnung hatte, wo unser bezauberndes, kleines Boutique-Hotel lag, wurde mir bewusst, nachdem er zum dritten Mal anhielt, um einen Kollegen um Hilfe zu bitten. Er war so bemüht und freundlich, dass wir es ihm nicht übel nahmen. Am Ende der kostenlosen Rundfahrt stellte sich heraus, dass das Hotel nur drei Minuten von der Pub Street entfernt war - unserer Fahrer hat rund dreißig gebraucht. Wir gaben dem sichtlich beschämten jungen Mann ein gutes Trinkgeld und schleppten uns hoch ins Hotelzimmer, wo wir uns noch ein eiskaltes Angkor, ein Bier aus der Region genehmigten, bevor wir in einen traumlosen Schlaf fielen.
Wenige Stunden später, um kurz vor acht, nachdem wir bereits unser ‚American Breakfast‘ bestehend aus einem weißen Toast und Marmelade zu uns genommen haben, erwartete uns ein silbernes Auto vor dem Haupteingang. Sunny, ein zurückhaltender, ernster Mann, begrüßte uns höflich. Bevor wir einsteigen dürfen, erzählte er monoton und in aller Ausführlichkeit, was uns heute und morgen erwartet. Diese Zeremonie erinnerte mich an ein nobles Dinner, bei dem der Livre zu Anfang das Menü des Abends präsentiert. Mit dem Setzen des letzten Punktes, öffnete sich, dem Protokoll entsprechend, die Fahrertür und ein junger Mann begrüßte uns, mit einem breiten, freundlichen Grinsen. Sein Name war Ry. Ich ging ums Auto herum und die beiden Männer öffnetn uns parallel die Hintertüren, damit wir auf dem Rücksitz der klimatisierten Limousine Platz nehmen konnten. Zunächst fuhren wir zum Haupteingang der Anlage, um uns einen Tempelpass für die kommenden zwei Tage zu besorgen. Um knapp 65 $ leichter machten wir uns unter Sunnys Monolog auf zu Angkor Thom, der ehemaligen Hauptstadt Angkors. Ich merkte, wie ich immer wieder abschweifte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt aus dem Fenster zu gucken und die zahlreichen Eindrücke in mich aufzusaugen. Sunny ließ sich davon nicht beirren und redete und redete und redete. Der Mann nahm seinen Job als Guide offenkundig sehr ernst und lieferte ab. Und meine Freundin ermutigte ihn auch zusätzlich, weil sie aus ehrlichem Interesse oder purer Höflichkeit, ganz sicher war ich mir nicht, in Form aufmerksamkeits-suggerierender „Mhms“ und „Ahs“ unseren Guide animierte über Adam und Eva zu sprechen. Hörte sie tatsächlich zu? Der nuschelte doch auch so, die konnte ihn doch unmöglich hören? Oh Mist, Sunny sah mich wieder an. Ich lächelte unverbindlich zurück und nickte bekräftigend mit dem Kopf. Verdammt. Ich wandte meinen Blick danach schnell wieder auf die Straße. Nach und nach wurde es voller und ich erkannte Touristen. Elefanten, Busse, Motorrad-Taxis und Autos zwängten sich durch die Straßen auf dem Weg ins einstige Khmer-Reich. 

Ry hielt auf einmal ohne ersichtlichen Grund am Straßenrand. Waren wir schon da? Ungeduldig wie ich war, öffnete ich selbstständig die Tür und wurde sogleich höflich, jedoch mit einer panischen Nuance von Ry getadelt: „Oh, no no no. I will do it for you.“ Scheinbar war das Hofieren im Service inbegriffen, nur war es mir fürchterlich unangenehm derart betüttelt zu werden. Ich lächelte stumm, ohne zu diskutieren, wie ich es für gewöhnlich getan hätte und schwang stattdessen meinen schwarz-weißen Beutel, den ich gestern auf dem ‚Old Market‘ ergattert habe, auf und trottete meiner super entspannten Freundin und dem kontinuierlich sprechenden Sunny hinterher.
Wir liefen über eine Brücke auf ein Tor zu, die wiederum über einen Fluss führte und der, wie Sunny uns erklärte, einst als Schutzwall diente und rechteckig angelegt wurde. Damals wimmelte es im Wasser vor Krokodilen, die als Bodyguards eingesetzt wurden. Heute gab es hier aber keine mehr. Sunny lachte. Ich nicht. Sicher das niemand eins übersehen hatte? Ich sah mich unwillkürlich zuerst am Fuß gepackt, panisch strampelnd in die Schwärze gezogen und dann zerfetzt und bis auf die Knochen abgenagt durch den Wall treiben. Naja, vielleicht war das doch etwas abwegig. Dafür müsste ich erstmal ins Wasser plumpsen. Die wilden Affen waren viel unangenehmer. All diese unbekannten, fremden Gefahren, die an jeder Ecke lauerten, erschütterten massiv mein allgegenwärtiges Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit. Ich musste schließlich schon damit zurechtkommen, dass Geckos im Doppelzimmer schliefen, aber die, wie meine Freundin nach kurzen Verhaltensauffälligkeiten meinerseits, beschwichtigend mit den Worten „Geckos sind unsere Freunde. Geckos fressen Insekten. Geckos essen keine Menschen.“ erklärte.
Gut, gut. Ich konnte nur für sie hoffen, dass mir übermorgen kein Zeh fehlte. Erstens brauchte ich den noch und zweitens war die medizinische Versorgung in Kambodscha praktisch nicht vorhanden. Mir war natürlich bewusst, dass ich mir zu viele Gedanken machte und meine Angst in diesem Ausmaß unbegründet war. Der wahre tot ging schließlich von Schlangen aus. Nein, stimmt auch nicht. Mücken. Mücken brachten den Tod. Ich nickte meiner inneren Stimme bekräftigend zu und griff in meinen Beutel, um ‚Deet‘, ein ultra-aggressives Mücken-Abwehrmittel, aus meiner Tasche zu ziehen.
„Was machst Du da? Mücken sind nachtaktiv. Dass brauchst Du jetzt nicht.“, sagte die blonde Deutsche mit der Todessehnsucht.
„Hm, ja.“, stotterte ich, „aber sicher ist sicher.“
Ich wusste zwar, dass sowohl Siam Reap als auch Angkor Wat als malariafrei galten, aber es gab ja kein Gehege oder so. Wer sagte mir, dass nicht ein kontaminierter Tourist aus Laos die Seuche zurückbringt? Just in diesem Moment? Paranoid und glücklich sprühte ich einfach drauf los, ehe ich den Massen weiter hinterher lief. Wir gingen insgesamt in einem sehr moderaten Tempo, aber ich spürte wie sich salziger Schweiß auf meiner Stirn perlte. Ich trug an diesem Tag FlipFlips, ziemlich dumm, ehrlich gesagt, eine lange, lockere Hose aus dünnem Stoff und ein schwarzes T-Shirt. Es war Mai und in Kambodscha war Trockenzeit. Um kurz vor 10 Uhr näherte sich das Thermometer bereits der 40 Grad-Marke. Damit war offiziell jeder Faden an meinem Körper einer zu viel. Ich hatte auch keine Sonnenbrille dabei und kniff die Augen, wenn ich nicht auf den Boden starrte, gegen die intensiven Sonnenstrahlen zusammen. Plötzlich fand ich mich in einer großen Menschenmasse aller Nationen wieder. Vor uns tat sich ein Bauwerk auf und Sunny erklärte, dass das Angkor Wat sei, der letzte Punkt des heutigen Tages. In diesem Moment kam Ry wieder um die Ecke gefahren und brachte uns nach diesem kurzen Halt zum 'Bayon'.
Ich muss gestehen, dass ich mich mit Angkor vor meiner Anreise nicht beschäftigt habe. Ich wusste bis zur Ankunft so gut wie nichts, außer, dass wir uns ein paar Tempel in Kambodscha ansehen wollen. Eigentlich wusste ich nur, dass wir uns Angkor Wat ansehen wollten. Daher war Sunnys endloser Bericht sehr hilfreich, um meine peinlichen Defizite zu besetzen, wenn auch etwas über detailliert. Jeder zweite Satz Sunnys begann mit „Jayavarman der VII…“. Er war mit der bedeutendste Herrscher des Angkor-Reiches und ließ während seiner Regentschaft Angkor Thom, die einstige Hauptstadt und in dessen Zentrum 'Bayon', den größten und komplexesten Tempel, errichten. Daneben entstanden auf seinen Wunsch hin zahlreiche Gasthäuser, Bibliotheken, Krankenhäuser, und und und. Als wir dann vor 'Bayon' standen, sah ich nur große Steine. Ich war wenig beeindruckt. Touristenmassen schoben ihre schwitzigen Körper vor uns her. Bunte Regenschirme waren gegen die Sonne aufgespannt. Selfiesticks duellierten miteinander. Hände betatschten die Mauern. Ich stand nur schwitzend da und sog die Szenerie in mich auf, bevor wir dem eifrigen Sunny weiter folgten.

Im Innern wurde es dann besser, aber die Touristen störten mich. Ich war genervt, obwohl ich ohne jeden Zweifel selbst ein Teil des Problems war. Die dicken Mauern mit den vielen Schächten bescherten uns hin und wieder etwas, das sich wie eine Brise, in der sonst unbeweglichen Hitze, anfühlte. Jetzt offenbarten sich auch all die Besonderheiten. Der Tempel war verschachtelt und übersät mit Hunderten von Buddha-Gesichtern. Die '4 Faces of Buddha', die in die Türme gemeißelt wurden, ragten besonders heraus. 



Wie wir von Sunny erfuhren, wurde der 'Bayon' über die Jahrhunderte weiter ausgebaut, aber zu keiner Zeit abgerissen. Dadurch fanden sich viele verschiedene, auch religiöse Einflüsse, wieder. 
Ich fand es interessant, aber all die vielen Geschichten, die Sunny uns routiniert erzählte, waren mir zu viel und zu weit weg. Mir genügten Fakten und keine ausgedehnten Geschichten über irgendetwas weit vor Christus, denn ich wusste, dass ich in einer Woche nur noch die Bilder mit der ein oder anderen Info parat haben würde. Mein fragiles Aufmerksamkeitsvermögen gelang bereits an seine Grenzen und wir waren gerade einmal im ersten Tempel. Man sah mir wohl auch an, dass ich mit meinen Gedanken nicht bei ihm war. Ich gab mir auch keine sonderliche Mühe es zu verstecken. Sunny fehlte im Gegenzug die Empathie, um zu spüren, dass es zu viel und weniger mehr war. Vermutlich lag es aber auch daran, dass er keinen Humor besaß. Keine ironischen oder bitter-bissigen Kommentare, keine witzigen Anekdoten, nichts. Sunny war trocken, reserviert und steif. Im Ausdruck und seiner Haltung. Er verhielt sich vollkommen tadellos und ich fühlte mich zunehmend wie eine schlechte Schülerin. Ich hatte schlechtes Gewissen, wenn ich einem Impuls folgend, abrupt stehen blieb, um ein Foto zu knipsen oder schneller sein wollte, weil ich etwas sah, das meine Aufmerksamkeit erregte. Ich glaube, meine Freundin fand seine Darbietung hingegen richtig klasse. Sie hätte zwar auch gern die ein oder andere Minute ohne Sunny, der uns auf Schritt und Tritt folgte und uns keine Sekunde aus den Augen ließ, gehabt, aber alles in allem war sie zufrieden mit ihm. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie schon zum zweiten Mal in Kambodscha war und nun mit einer anderen Perspektive an dieser Veranstaltung teilnahm.
Ich fing an mich zu fragen, ob alle Kambodschaner so waren wie Sunny. War sein Verhalten kultureller Natur oder schlicht sein Charakter? Lässt sich das eine vom anderen überhaupt abgrenzen?
Ich merkte auch, dass er gar nicht über etwas anderes sprechen und einfach seinen Text abspulen wollte. Meine Freundin und ich erzählten hin und wieder etwas über Deutschland, aber man konnte ihm ansehen, dass es ihn entweder nicht interessierte oder für ihn die Vorstellung von Europa so weit weg war, wie für mich 'Jayavarmanajam der VII'. 
Vor allem nachdem ich anfing ihn, wenig einfühlsam wie ich mir Nachhinein eingestehen musste, nach Kambodschas Gegenwarts-Geschichte zu befragen. Wie in einem Verhör malträtierte ich ihn mit meinen Fragen über die Khmer, die Killing Fields und die Minen. Er wollte nicht darüber reden und windete sich, auch wenn er brav antwortete. Immer wieder lenkte er die Gespräche zurück zu Angkor und ich beschloß nach kurzer Zeit ihn einfach in Frieden zu lassen.  Ich an seiner stelle hätte vermutlich auch keine Lust über Nazis und Hitler zu sprechen, denn ich war der Meinung, dass es so viele und schönere Dinge gab, die Deutschland ausmachten. Dennoch erweckte sein Wesen meine Neugier. 
Danach machten wir eine kleine Pause und trafen wieder auf Ry, unseren aufgeweckten Chauffeur, der uns feuchte Tücher und ein eiskaltes Wasser reichte. Ry wartete den ganz Tag im Auto und war immer bereit uns von irgendwo abzuholen. Der Schweiß rann mir mittlerweile in Strömen den Körper hinab und ich griff dankbar nach den Gaben. 
Bevor wir weitergingen, beschloss ich eine Zigarette zu rauchen. Sunny ertrug meinen Wunsch und wartete halbwegs still bis ich bzw. wir, ich konnte meine Freundin leicht dazu verführen ebenfalls zum Glimmstengel zu greifen, fertig waren. In dem Moment, in dem wir die Zigarette ausdrückten, rissen die Herren die Türen auf und wir stiegen wie VIPs in den klimatisierten Wagen. Der Tag verging insgesamt wie im Flug und neben weiteren Tempeln und tollen Panoramen, war der letzte Punkt des Tages und die mit Spannung erwartete Hauptattraktion, Angkor Wat. 


Die Sonne hat bereits ihren Zenit erreicht und die Hitze forderte mich. Vom schattigen Innern, des imposanten Tempels trennte mich nur noch ein kurzer Fußmarsch. Nur hatte ich dabei nicht Sunnys Führung einkalkuliert. Er lief mit uns in einem ausgedehnten ZickZack, als sei ein wild gewordener Jäger hinter uns her, über das Gelände und erklärte uns jeden Winkel. Ich nutzte keine Sonnenmilch, noch trug ich einen Hut. Ich war erschöpft, als wir auf Angkor Wat zu marschierten. Auch wenn es wenig besonders klingt, für eine hellhäutige, untrainierte Europäerin, war der erste Tag sportlich. An körperliche Grenzen zu stoßen, war jedoch etwas, dass ich genoss. Ich tendierte in vielen Lebensbereichen zu Extremen. Entweder ich gab alles oder nichts. Entweder ich war fast verhungert oder dicklich. Entweder ich lief einen Marathon oder ich machte gar keinen Sport. Ein moderates, gesundes Zwischenmaß aufzubauen fällt mir bisweilen schwer. Und auf dem Weg zur Hauptattraktion, mit geschwollenen, schmerzenden Gliedmaßen, blutigen Füßen und gefährlich dehydriert war ich zwar am fluchen, aber irgendwie, ja irgendwie fand ich es geil. Denn in Momenten wie diesen fühlte ich mich schlicht lebendig oder besser gesagt, fühlte einfach, dass ich lebte. Und dieses Hochgefühl des eigenen Überwindens, des Zähne-Zusammenbeißens, konnte mir nur ein Extrem besorgen. 
Nach fast einer Stunde betraten wir dann endlich die heiligen Hallen und ich war glücklich da zu sein. Wir blieben dann nochmals 15 Minuten in der vorderen Galerie, die dem gleißenden Sonnenlicht ausgesetzt war stehen. Dort bestaunten wir das Zeugnis eines anderen Lebens und deren Sagen, die dort vor hunderten von Jahren in Stein gemeißelt wurden. 



Die friedliche Atmosphäre und die Ruhe, beseelten mich. Vielleicht war ich auch ein wenig high vom Deet und dem Wasserverlust, aber als ich barfuß über die unebenen Steine lief, breitete sich wieder dieses seltsame Gefühl von Besonderheit in mir aus.