Sympathy For The Devil II

Mit ihm hatte ich bereits ein Bewerbungsgespräch am Telefon geführt. Das Interview dauerte auf die Sekunde 30 Minuten. Er erzählte sehr ehrlich und damit alles andere als positiv vom Unternehmen und der Stelle, was mich zwar zunächst irritierte, mir aber gefiel. Ich hatte schließlich keine Vergleichsmöglichkeiten. Ich war zuvor in keinem Spitzenunternehmen, das vor Kraft kaum laufen konnte, sondern hing depressiv an der Uni und gelangweilt in den Nebenjobs. Ich nahm seine Beschreibung gänzlich unkritisch auf. Er hatte eine sehr angenehme Stimme – tief, aber nicht brummig und zwischendurch, er lachte nicht ein einziges Mal bei unserem Telefonat, hatte ich dennoch das Gefühl, dass viel Ironie und Schalk mitschwang – Attribute, die ich persönlich sehr mochte. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig, was ich bei seiner Position und der Tatsache, dass er einen Doktortitel hatte, doch für abwegig hielt.
Die Personalerin, die durch das Gespräch führte, fragte, ob ich schon mal an einem Punkt war, an dem ich dachte, dass ich es nicht schaffen würde. Mir schossen prompt viele Situationen durch den Kopf und ich erzählte von meinem Marathon-Training und das ich bei jeder Steigerung dachte, ich würde es nicht packen und müsste aufgeben. Am Ende war ich aber immer durchs Ziel gelaufen. Das schien ihnen zu genügen. 
Anschließend erkundigte sie sich, ob ich noch Fragen hätte.
„Ja, an den Doktor.“, kam es impulsiv von meiner Seite.
„Ja bitte.“, erklang es durch den Hörer.
„Wenn alles so schlecht ist in diesem Unternehmen, warum sind Sie noch da?“
Er überlegte kurz, ehe er antwortete: „Ich bin jetzt schon ein paar Jahre hier. Als ich kam war die Berichterstattung über das Unternehmen eine Katastrophe, aber die Entwicklung bis heute ist gut. Es hat sich schon sehr gebessert. Es ist ähnlich wie bei Ihrem Marathon. Ich will mit durchs Ziel laufen.“
Vor mir stehend war er nun ganz anders als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er trug einen schwarzen Anzug, schwarze Schuhe und ein weißes Hemd. Sein Gesicht war markant und glatt rasiert. Er hatte eine hohe Stirn, an dessen unteren Ende helle Brauen fest saßen. Die Farben seiner Iriden, sie waren dunkel, konnte ich über den Tisch hinweg nicht eindeutig bestimmen, aber auch sie waren von hellen Wimpern umrahmt. Sein Blick war beinahe stechend, wenn er einem direkt in die Augen sah. Die dazwischen liegende Nase war geradlinig und lang. Sein Mund breit mit einer leicht größeren Oberlippe. Die einzige Falte, die ich mit größter Mühe suchen musste, entstand, wenn er seinen Mund zu einem Lächeln verzog.
Wir stellten uns der Reihe nach vor und dann ging es los. Die drei verließen den Raum und wir bekamen verschiedene Aufgaben. Eine Herausforderung bestand darin eine kurze Präsentation aus alten Pressetexten zu erstellen. Ich überflog die Infos, die ich bekam und kombinierte sie mit dem, was ich mir am Tag zuvor über das Unternehmen angesehen hatte. Ich wurde aufgerufen, ging in den Nebenraum und freute mich auf meinen Vortrag. Mir stieg zwar zu Anfang merklich die Hitze ins Gesicht, aber Vortragen und Präsentieren machten mir Spaß. Nach den ersten drei Minuten war das Lampenfieber verflogen und ich war in meinem Element. Die Personalerin und das Neutrum schauten freundlich hin, hörten artig zu und nickten hin und wieder wohlwollend. Der Doktor nicht. 



Er war unfreundlich, unartig und desinteressiert. Er saß am Kopf des Tisches und hatte sich seitlich zu mir hingesetzt. Seine Beine waren übereinander geschlagen und er hatte den Blick auf sein Handy gerichtet. Die pure Provokation. Mittendrin unterbrach er mich unvermittelt und fragte nach der Herkunft meiner Informationen. Ich sagte, dass sie aus den Unterlagen stammten, aber das war gelogen. Ich hatte Input aus dem Internet dazu gedichtet. Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit. Nicht lange, aber das irritierte ihn, denn er kannte schließlich jeden der vorgelegten Texte, hatte sie selbst geschrieben. Ich lächelte einfach und redete weiter. Er hatte den Kopf bereits wieder abgewandt. Nach meinem Kurzreferat ging ich zurück zu den anderen. Wir folgten an diesem Tag immer dem gleichen Muster. Wir bekamen eine Aufgabe, dann ging die Mutti rein, danach die Maus und letztlich ich. Nun standen wir vor der letzten Aufgabe. Die Maus war bereits vollkommen am Ende.
„Meine Güte, der Doktor macht mich wirklich fix und fertig.“, kam es gequält von ihr.
Die Mutti gab sich hingegen kämpferisch: „Ist mir egal. Ich will das hier unbedingt. Wenn ich noch einmal eine Traueranzeige für das Käseblatt schreibe, gebe ich mir die Kugel.“
Während ich dasaß und das Gespräch der beiden verfolgte wurde mir klar, dass mein Ego einen gehörigen Dämpfer bekäme, sollte ich diese Stelle nicht bekommen. 
In der letzten Aufgabe sollte ich mich auf die Rolle der Pressesprecherin für eine fingierte Interview-Situation vorbereiten. Die beiden kamen ziemlich angeschlagen wieder zurück. Vor allem die Maus wirkte, als ob sie gleich in Ohnmacht fiele. Ich setzte zum Schlussakkord an. Ich ging rein, nahm Platz. Die Situation ähnlich wie zuvor -  Die Personalerin zu meiner Rechten, das Neutrum zu meiner Linken und der Doktor gegenüber. Er war der Journalist.  Innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten versuchte er Informationen zu kaufen, mich zu beleidigen und zu erpressen und mir wurde klar, dass ich für ihn arbeiten möchte. Ich kam zu dem Entschluss, dass ich ihn als Mentor haben wollte. Ich hatte jemanden gefunden, den ich auf eine schräge Art und Weise bewunderte. Ich wollte auch in der Lage sein, dieses Pokerface aufzusetzen. Ich wollte diesen Job.
Einen Tag später erhielt ich einen weiteren Anruf, bei dem noch ein paar Fragen abgeklopft wurden.
 „Wie Sie wissen sind wir ein sehr kleiner Bereich und da macht jeder auch mal Aufgaben, die für andere schon unter ihrem Wert sind, wie zum Beispiel einen Kaffee holen. Wie stehen Sie dazu?“, fragte er. 
 „Öhm…also…ich koche wirklich hervorragenden Kaffee und das macht mir auch nichts aus mal einen mitzubringen.“, meinte ich unbeeindruckt.
„So war das nicht gemeint, niemand kocht hier Kaffee. Ich würde dem CEO auch kein Käsebrötchen schmieren. Aber gut, so habe ich Sie auch nicht eingeschätzt. Hören Sie, die Stelle ist wirklich öde. Das ganze Unternehmen ist alt und schäbig. Hier ist nichts hip. Das ist kein cooles Marketing oder so. Das ist doch gar nichts für einen jungen Menschen … Aber eines muss ich Ihnen sagen, wenn Sie es hier schaffen, dann schaffen Sie es überall. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das wollen?“
„Doch, ich habe mir das gut überlegt und ich will es.“, sagte ich voller Überzeugung.
„Ihnen ist doch wirklich nicht mehr zu helfen.“, stellte er abschließend trocken fest.

Eine knappe Woche drauf erhielt ich die Zusage. Ich war stolz und eine Welle der Erleichterung überkam mich. Ich wusste nicht mehr, wann ich zum letzten Mal so empfunden hatte. Innerlich gab ich ein Versprechen. Nein mehr noch, ich leistete einen Schwur, dessen Tiefe mir erst viele Monate später bewusst wurde. Noch bevor ich den Vertrag unterschrieben hatte, war ich meiner Stelle, ähnlich einem Soldaten, der seinem Regiment bis in den Tod folgen würde, ergeben.
Ich suchte eine neue Wohnung und fand eine Wohngemeinschaft mit zwei Männern. Der eine Anfang 30 und ebenfalls Berufsanfänger. Er kam aus dem Schwabenland, hatte brasilianische Wurzeln und war selbst erst vor einem Jahr für sein Trainee hierher gezogen. Der andere, ebenfalls Anfang 30, kam ursprünglich aus Sachsen, wurde von rechts nach links umgekrempelt und lebte seit mittlerweile zehn Jahren im Pott. Ich verliebte mich sofort in die beiden. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass Richtige zu tun. Am Wochenende vor meinem ersten Arbeitstag, traf ich meinen besten Freund in unserem Stammlokal. Wir bestellten Sekt und stießen an. Ich hatte auf einmal das Gefühl, alles käme nun ins Lot. Mir sprang das Glück aus dem Gesicht und ich sagte zu ihm: ,,Egal, wie sich das entwickelt, vielleicht entpuppt sich der Job oder die Wohngemeinschaft als eine einzige Katastrophe, aber heute, jetzt und hier, bin ich glücklich.“
Ich platzte vor Motivation. Ich wollte die Ärmel hochkrempeln und endlich etwas lernen, was mich wirklich weiterbringen würde. Ich hatte viele Hürden in den letzten Jahren bewältigt, aber alles ertragen und durchgezogen. Ich hatte noch nie etwas aufgegeben und nun wusste ich für was all das gut war. Vor mir lag ein leeres Blatt Papier, das darauf wartete ausgefüllt zu werden. Ich gab mich der Illusion von Aufbruch und Veränderung hin, ließ die letzten Jahre hinter mir und blickte auf das, was mich erwartete - Ich naives Kleinstadt-Mädchen.


Auszug aus meinem Buch 'Gedächtnisprotokoll'