Blick durchs Fenster

Ich stehe auf, ziehe frische Kleidung an. Steige, ein Bein nach dem anderen, in eine steife, schwarze Hose und knöpfe, Knopf für Knopf, meine gebügelte Bluse zu. Danach rolle ich einen Socken nachdem anderen über meine kalten Füße. Steige in schwarze Schnürschuhe und drehe meinen Oberkörper in einen der vielen Blazer aus meinem Schrank ein. 

Ich gehe ins Bad, putze meine Zähne, die vorderen etwas enthusiastischer. Ich spucke, nach vorne gebeugt, das flüssige Gemenge aus Speichel und minziger Paste in das Waschbecken. Ich drehe den Hahn auf und warte bis das Wasser eiskalt ist. Wenn eine Gänsehaut meinen Unterarm überzieht, hat es die richtige Temperatur. Meine Hände zu einer Schale geformt fange ich den Strahl auf und schmeiße ihn in mein Gesicht - zwei, drei, viermal. Den Hahn abgedreht lege ich mein nasses Gesicht in ein kratziges Handtuch und rubbel es trocken. Mit täuschend lebendigem Gesicht nehme ich an meinem Schminktisch platz und sehe mich eine Weile an. Atme tief aus, ziehe Mascara, Rouge und Lippenstift aus der darunter befindlichen Schublade. Ich brauche keine zehn Minuten bis ich beschließe, dass ich das Haus verlassen kann. Zuvor gehe ich noch in die Küche, lausche der Kaffeemaschine wie sie die Bohnen mahlt. Zwischen dem ersten Klicken des Feuerzeuges und dem Öffnen der Milchpackung wird mein erster Kaffee an diesem Tag gebrüht. Ich greife nach dem Henkel der befüllten Tasse und setze mich mit meiner glühenden Zigarette auf den schweren, grauen Sessel in der Küche. Es ist früh. Draußen ist es stockdunkel. Hier in der Küche denke ich, dass die Welt noch schläft. Das monotone Ticken der Uhr, das alles übertönt, wähnt mich zur Eile. Ich inhaliere hastig, stürze den letzten Schluck herunter und ziehe meine Jacke an. Packe meine Tasche und kontrolliere den Inhalt auf mein Telefon, Börse, Autoschlüssel, Zigaretten und Wasser. 
Ich lasse vorsichtig die Tür ins Schloss fallen und laufe die knarrenden, blutrot lackierten Holzstufen hinunter zum Ausgang. Draußen schlägt mir der Herbst ungestüm ins Gesicht und fährt mir frisch unter die offene Jacke. Ich haste zu meinem Automobil, starte den Motor und rolle los. Die nächste Stunde warte ich darauf, dass ich ans Ziel komme. 
Voller Frust suche ich auf dem Firmengelände nach einem Parkplatz, drücke eine der Zigaretten, die ich auf der zermürbenden Fahrt angezündet habe, im Aschenbecher aus und lasse zu, das die kalte Asche vom morgen, dass erste sein wird, was mich in neun Stunden empfängt, wenn ich müde in mein Auto steige. 

Im Büro nehmen mich freundliche Gesichter in Empfang. Ich lächle verklemmt zurück, lege dabei meine Sachen ab und nehme Platz. Ich beteilige mich am verpflichtenden Small Talk und ziehe mich dann zurück. 
Ich fange meine Aufgaben an. Sie beschäftigen, aber befriedigen mich nicht. Das wird bestimmt bald besser. Sagen jedenfalls die Leute. Ich sollte dankbar dafür sein, eine Anstellung zu haben. 
Und doch werde ich das dumpfe Gefühl nicht los, einen Fehler zu machen. Ich fühle mich gefangen und bedroht, als stünde ich mit dem Rücken zur Wand. Doch ich kämpfe dieses Gefühl nieder. Schiebe es von mir weg. Meistens gelingt es mir. Meistens. Das Bewusstsein durchfährt mich dann und wann, wenn ich anfange zu denken. Wenn ich von meinen Aufgaben ablasse, wenn ich in die Kantine laufe, wenn ich mit einem fremden Gesicht im Fahrstuhl stehe, wenn ich am Abend meine Tasche packe. Dann fühle ich mich fremd. 

Wie ein Tier, eingesperrt in einem Käfig und das, obwohl ich die Macht habe, durch die weit auseinander stehenden Gitterstäbe zu fliehen.
Es gibt Ausfahrten, doch ich bleibe stur auf der Einbahnstraße.  Zeige mich pflichtbewusst. Bin gehorsam und tüchtig. Eine Bereicherung für die Gesellschaft. Und...und ich bleibe, weil ich gar nicht weiß, wohin ich soll. Dieses Leben ist alles was ich kenne. 

Innere Unruhe und existenzielle Langeweile sind allgegenwärtig. Manchmal da kann ich mich motivieren, regelrecht begeistern. Hin und wieder brodelt starke Euphorie in mir hoch. Ekstatische Höhen. Denn ich weiß ganz genau, tief in mir, da ist noch etwas. Mehr. 
Auf und Ab. Auf und Ab. Auf und Ab.
Nur Extreme. Möglichkeiten über Möglichkeiten. Wohin soll ich als erstes? Was könnte ich als nächstes beginnen. Die Welt zu meinen Füßen. Oder? 
Doch diese Fantasien sind kurzweilig. Da schelte ich mich für meinen Wahn und die Gedanken verebben so schnell, wie sie gekommen sind, in unbekannten Tiefen. 
Dann kriechen mir Tante Verzweiflung und Brüderchen Ohnmacht langsam die Wirbelsäule hinauf und legen sich tonnenschwer auf meine Schultern.
Und ich? Ich bleibe gelähmt, in meinem Unvermögen auszubrechen, zurück. 

Ich nehme wieder höflich am Small Talk der Anderen teil und erledige meine Aufgaben. Lasse die Stunden, Tage, Wochen an mir vorbeiziehen.
Es ist noch hell, als ich langsam, meinem Blazer über den rechten Unterarm gelegt, das Büro verlasse. Draußen empfängt mich Sonnenschein. Ich bleibe kurz stehen, um die Strahlen auf meinem Gesicht zu spüren. Um nicht peinlich angesehen zu werden, gebe ich mir einen Ruck und laufe eilig weiter. Ich krame den Schlüssel aus meiner Tasche hervor und ziehe an der Autotür, als ich die Entriegelung vernehme. 
Drinnen hängt wie erwartet kalter Rauch in den Polstern. Ich schalte die Heizung an und lasse die Fenster einen Spalt auf, um frische Luft hereinzulassen.
Ich quäle mich durch den Verkehr und lasse mich zum tausendstenmal von derselben Musik unterhalten.

Ich parke müde und ohne Elan vor meiner Haustür. Ich bin froh wieder hier zu sein. Oben angekommen koche ich irgendetwas und schaufle es frustriert in mich hinein. Zu mehr kann ich mich nicht motivieren. Ich gehe duschen und schaue fern, lese oder schreibe ein wenig, bevor ich mich in mein Bett und zur Ruhe lege. Der Wecker ist gestellt, angestrengt versuche ich ins Land der Träume abzudriften und denke daran, wie ich in 6 Stunden aufstehe. Stelle mir vor, wie ich mich ankleide und meine Beine in eine steife Hose gleiten lasse.