Gipfelstürmerin

Mitten in der Nacht standen wir auf. In einer halben Stunde wird man uns aus unserem Hotel abholen. Ich zog braune, nagelneue Wanderschuhe an und steckte die Enden meiner engen Jeanshose in die schwarzen Socken, die ich hochgezogen habe. Dazu ein schwarzes T-Shirt und eine dünne Jacke. Sicherheitshalber sprühe ich mich von Kopf bis Fuß mit Deet, einem aggressiven Mückenmittel, ein, denn ich bin ein sehr beliebtes Opfer der kleinen Blutsauger. Ich rieche wie eine Chemie-Laborantin, als der Guide mit ein wenig Verspätung, zaghaft an unsere Zimmertür klopfte. 
Es war ein junger, schmächtiger Balinese, der gutes Englisch sprach und uns zum Sammelpunkt brachte, an dem ein Frühstück auf uns wartete.
In der Unterkunft, einem großen Hostel, warteten zahlreiche, teilweise sehr aufgedrehte, junge Menschen aus allen Nationen. 
Neben uns drei Männer aus Skandinavien. Wir frühstückten, was man uns vorsetzte: Einen Tee und etwas, dass aussah wie ein Pfannkuchen. Ich war müde, aber langsam erwachte die Aufregung in mir und ein Kribbeln setzte ein. Ich wusste nicht, was mich erwartet.
Wir hatten zwei Tage zuvor in unserem kleinen Hotel eine Trekking-Tour zum Gunung Batur, einem der aktiven Vulkane Balis, gebucht. Die Empfehlungen, die wir erhalten haben beschränkten sich auf eine Jacke und festes Schuhwerk. Und da saß ich nun, leicht schwitzend in dieser schwülen Mainacht und warte gespannt auf unsere Abfahrt. Kurze Zeit später ging es los. Zu acht quetschten wir uns in einen alten Kleinbus und begaben uns in die wenig vertrauenserweckenden Hände des Guides. In einem halsbrecherischen Tempo peitschte er über die dunklen Landstraßen und ich beschloss, besser die Augen zu schließen und ein wenig Musik zu hören, denn hinter uns saß eine blonde Holländerin, die die gesamten anderthalb Stunden Fahrt, von Ubud nach Kintamani, lautstark herumalbern wird. 
Wir erreichten den Parkplatz gegen 3 Uhr Nachts. Es war noch immer stockfinster. Die einzigen Lichter spendeten die ankommenden Bussen, die unzählige Touristen aus allen Ecken der Insel im Lager auskippten. Unsere Tour besagte, dass wir in fünfer Gruppen losziehen, mit einem erfahrenden Guide an unserer Seite. Uns wurde noch ein Frühstücks-Paket, eine Flasche Wasser und eine Taschenlampe, so fern man schnell genug war (ich war es nicht) in die Hand gedrückt, ehe wir losmarschierten. 
Allerdings formatierten wir uns zu meiner Überraschung in einer Gruppe, die aus rund 25 Touristen und drei Guides besteht. An sich kein Problem, aber besagte Holländerin war mir vom ersten Schritt an auf den Fersen und die Guides sahen bei genauerer Betrachtung aus, als ob sie nicht einmal Autofahren dürfen. Ich schätzte den jüngsten auf 14 und den ältesten auf etwa 22. Aber ich schob meine Zweifel eilig beiseite und ließ mich auf das Abenteuer ein. 
Wir gingen los und ich versuchte irgendetwas, dass nach einem Vulkan aussah zu erspähen, aber der Himmel war rabenschwarz. 

Ich bin eine absolute Durschnittsbürgerin, die hier und da ein wenig Sport macht, daher hatte ich mich auch für die Tour, die einen circa zweistündigen Aufstieg versprach, entschieden, anstatt für den Agung bzw. den Rinjani auf Lombok, deren Aufstiege deutlich anspruchsvoller waren.
Nach fünfzehn Minuten hechelte ich mir dennoch die Seele aus dem Laib und zog meine Jacke aus. Wir liefen eine steile und asphaltiere Straße in einem unglaublichen Tempo hoch. Wenn so die nächsten zwei Stunden würden, dann schaffte ich den Aufstieg nicht. Ich bekam ein ungutes Gefühl und schaute mit Verzweiflung in die vor uns liegende Schwärze. Ein Blick auf meine Freundin bestätigte mir, dass sie ebenfalls so dachte. Nach einer kurzen Verschnaufpause, die immer wieder, glücklicherweise auch von den vielen anderen gefordert wird, marschierten wir weiter. Roller und schrottige Autos quetschten sich hupend an uns vorbei. Wieso fuhren die mit dem Auto hier hoch? Oder besser gesagt, warum fuhr ich nicht mit dem Auto? 
Missmutig und wenig optimistisch ging ich weiter. Ich ließ meine Freundin ein wenig zurück, um in meinen Lonesome-Rider-Modus zu verfallen. Ich konnte nicht reden und denken, sondern musste einfach laufen, wenn ich das hier schaffen wollte. In konzentrierte mich auf meine Atmung, versuchte alles andere um mich herum auszublenden und fokussierte mich völlig auf das Ziel. 
Der Schweiß rann mir in Strömen die Stirn herunter und ich rang angestrengt nach Luft. Spürte schmerzvoll in meiner Lunge jede Zigarette, die ich in den letzten Jahren geraucht habe. 
Ich schaffe es nicht... immer wieder prasselte dieser Satz auf mich nieder. 
Ich überlegte bereits, wie ich dem Guide sage, dass ich zurück möchte, als ein Pärchen locker an der Gruppe vorbei joggte. Ich riss mich zusammen und biss die Zähne aufeinander, als sich vor uns eine Art Parkplatz auf tat. Hier fanden sich auch die Roller wieder, die vor wenigen Minuten an uns vorbeigepest sind. Wir machten dankbar eine kleine Verschnaufpause und ich ließ die Szenerie auf mich wirken. 
Unsere Gruppe kam nach und nach in kleinen Häppchen oben an. Hier endete die asphaltierte Straße und vor uns führte ein schmaler Weg, der aus Geröll und Erde bestand, weiter nach oben. Nun wurde aus Power-Walking Trekking. 
Einen Blick nach oben, zum Gunung Batur, offenbarte mir noch immer nicht viel mehr als vor einer halben Stunde, aber von allen Seiten des Vulkans liefen Adern aus Glühwürmchen nach oben.
Das hier war wirklich kein intimer, romantischer Aufstieg, sondern eine Massenpilgerung. Hunderte Taschenlampen klettern den Berg hoch. Der Guide kündigte lautstark unseren Abflug an. Wir folgten ihm wie unwissende Jünger und verschmolzen mit all den anderen Menschen. Ich kapselte mich wieder ab, lief losgelöst von den anderen weiter und ohne eigene Taschenlampe. Ich musste enorm aufpassen und mir merken, wohin die Person vor mir trat, damit ich mich nicht verletzte. Ich war so stolz in diesem Moment, dass ich, in weiser Voraussicht, kurz vor dem Abflug, Wanderschuhe gekauft habe, durch die ich trotz des dicken Profils, allmählich die spitzen Steine spürte. Das grobe Profil half mir dennoch nicht abzurutschen. 

Wie in Trance ging ich den Berg hoch und lasse mich von der Stimmung tragen. Hier konnten wir nicht mehr so rasen wie vorhin, aber dennoch ist es anspruchsvoll. Ich war froh, dass ich einen Rucksack trug und meine Hände frei waren, die ich das ein oder andere Mal brauchte, um ich auf den nächst höheren Stein zu ziehen. 
Irgendwann blickte ich mich um und registrierte, dass die Sonne langsam aufging. 

Mein Herz schlug prompt schneller. Gestern Nacht hatte es wie aus Eimern geregnet und nun blickte ich in einen sternklaren Himmel, der einen phantastischen Sonnenaufgang versprach. Besser ging es nicht. Ich wusste, dass ich es schaffen werde. Der Aufstieg war im Wettlauf gegen die Zeit. Um 05:20 Uhr ging die Sonne auf und ich musste schneller sein. 
Der Spirit des Aufstiegs mit den Menschen aus allen Ländern motivierte mich und zog mich in den Bann. Allmählich konnte ich den Boden schemenhaft erkennen und ein Blick nach oben offenbarte mir das langersehnte Ziel: Der Gipfel. 
Ich bündelte nochmals meine Kräfte und gab alles. Obwohl mir der Schweiß aus den Poren rann, fing ich an zu frieren. Ich zog meine lächerlich dünne Jacke heraus. Hier oben wehte ein scharfer, kalter Wind. Ich schaute wieder auf meine Füße und setzte zum Schlussakkord an. Eins, zwei, eins, zwei,... Jetzt wurde es lauter. Vor mir saßen hunderte von Menschen und ich lief mit einem breiten und stolzen Grinsen, die letzten Meter, auf meinen Guide zu, der bereits oben wartete und mir die Hand gab. 


Ich folgte den Blicken der anderen Menschen, drehte mich zur Sonne und die Strapazen der letzten zwei Stunden waren vergessen. 
Vor mir bereitete sich ein wunderbares Naturspektakel aus. Ich blickte zu meiner Rechten auf den Agung und sah in der Ferne den Gipfel des Rinjanis. Affen kamen von allen Seiten von den Bergwänden hoch gelaufen und versuchten ein paar Snacks zu ergattern. Um mich herum kamen noch mehr Menschen nach oben und auf allen Gesichtern war dieselbe Glückseligkeit wie auf meinem zu erkennen. Ich suchte mir ein unbesetztes Fleckchen Gipfel und genoss still und allein den majestätischen Sonnenaufgang und die wunderschöne Landschaft, die in goldenes Licht getaucht vor mir in Erscheinung trat. 



Bali, Mai 2017